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29. Dezember 2023

FACHKRÄFTEMANGEL – GIBT ES DAS WIRKLICH?

Fachkräftemangel hier, Fachkräftemangel da. Als Recruiter im IT-Sektor begegnet mir dieser Begriff ständig. Doch was genau steckt dahinter? Herrscht in Deutschland wirklich ein so gravierender Fachkräftemangel?

Ich möchte meine Gedanken teilen. Diejenigen, die mich kennen, wissen: Ich nehme kein Blatt vor den Mund. Daher wird dieser Artikel auch sehr deutlich ausfallen. Als IT-Recruiter mit über 14 Jahren Erfahrung beobachte ich den Markt genau. Jedes Wort in diesem Artikel basiert auf meinen Gedanken und meinem Wissensstand. Dies ist also meine ganz persönliche Meinung zum Thema Fachkräftemangel in Deutschland.

„Wir bekommen nicht ausreichend Bewerbungen“. „Wir müssen einen Active Sourcer einstellen, der nichts anderes macht, als Kandidaten anzuschreiben“. Solche Aussagen höre ich immer wieder von Unternehmen und Kollegen aus der Personalabteilung. Besonders im IT-Sektor scheint es ein großes Problem zu sein, die passenden Kandidaten zu finden. Bei solchen Aussagen stelle ich immer diese Fragen:

1. Was bedeutet für euch „ausreichende“ Bewerbungen? Warum müssen es viele Bewerber sein?

2. Was bedeutet für euch „passender“ Kandidat? Muss er alle Kriterien erfüllen, die in der Stellenanzeige aufgeführt sind? Auf was legt ihr als Unternehmen Wert bei einem Kandidaten?

3. Seid ihr als Recruiter ausreichend ausgebildet und in der Lage, die teilweise komplexen IT-Lebensläufe zu lesen?

4. Wie lautet euer interner Prozess? Wie viele Interviews führt ihr? Wer sind die Fachentscheider? Wie regelmäßig und vor allem WIE setzt ihr euch mit dem Kandidaten in Verbindung?

Die Antworten auf diese Fragen fallen oft sehr mager aus. Denn die meisten Unternehmen setzen sich viel zu wenig mit dem gesamten Prozess auseinander. Es werden zwar Recruiter eingestellt, die Ausbildung der Recruiter wird jedoch kaum gewährleistet. Ganz im Sinne von: Ich habe einen oder mehrere Recruiter, die schaffen schon die Leute an. Die Recruiter laufen zwar los, sind dann aber meistens mit so vielen internen Prozessen beschäftigt, dass sie es zeitlich gar nicht schaffen zu rekrutieren. Da ist es zum Beispiel wichtiger, ein neues Tool einzuführen oder einen neuen Kollegen in die ganzen komplexen Unternehmensprozesse einzuarbeiten. Was ist die Folge? Genau! Wir bekommen die Bewerber nicht, also brauchen wir externe Unterstützung: Einen Personaldienstleister. Der hat doch ein Netzwerk, der wird uns schon die Kandidaten besorgen. Und schon versteckt man sich hinter dem Fachbegriff des Jahrhunderts: Fachkräftemangel.

Ein anderes Szenario: Man schaltet ganz akzeptable Stellenanzeigen und tatsächlich bewerben sich einige Interessenten. Selbstverständlich wird in der Anzeige mit frischem Obst und toller Work-Life-Balance geworben – das zieht ja am besten! Was passiert jetzt? Die Recruiter bzw. die Personalreferenten sind so mit internen Prozessen beschäftigt, dass die Bewerbung erst einmal eine Woche im Posteingang liegt. Dann wird sie weitergeleitet. Der Fachentscheider braucht auch eine ganze Woche für ein erstes Feedback. Meistens fällt das dann so aus: Liebe Personalabteilung, könnt ihr bitte mal das Gehalt und die Kündigungsfrist erfragen. Also nimmt die Personalabteilung erst in der dritten Woche der Bewerbung den Hörer in die Hand und ruft den Kandidaten an. Dieser freut sich natürlich, zumindest ein kurzes Zeichen vom Unternehmen gehört zu haben. Und dann herrscht wieder Funkstille. Weitere Wochen vergehen. Irgendwann erhält der Kandidat eine Absage, schriftlich per Mail natürlich. Was war der Grund für die Absage? Der Kandidat erfüllt nicht alle gewünschten Kriterien. Er hat zwar den richtigen Studiengang, aber leider die falsche Technologie. Und naja, lange im Projektgeschäft hat er auch nicht gearbeitet. Wir haben wieder den passenden Kandidaten nicht gefunden. Die Anzeige ist jetzt schon seit über drei Monaten online. Woran liegt es? Selbstverständlich am Fachkräftemangel!

Diese Schilderungen sind keine ausgedachten Geschichten, sondern die nackte Realität. Sicherlich möchte ich nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren. Es gibt wirklich hervorragende Unternehmen, die das Problem erkannt und exzellente Prozesse entwickelt haben. Der Großteil der Unternehmen in Deutschland hat jedoch weder ausgereifte Prozesse noch hinterfragen sie ihre Werte und Anforderungen an den Kandidaten. Die Personalabteilung ist weder fachlich noch menschlich in der Lage, diese Herausforderungen zu erkennen geschweige denn zu reflektieren.

Am liebsten würde ich diese Unternehmen alle wachrütteln. „Wacht auf!“ möchte ich schreien. „Es liegt nicht an den Kandidaten, es liegt an euch und an euren komischen Anforderungen!“ möchte ich sagen. Bitte hört endlich auf, die Kandidaten anhand eines Stück Papiers zu bewerten. Das sind Menschen, die sich Mühe gemacht haben und sich mit eurem Unternehmen auseinandergesetzt haben. Ruft den Kandidaten doch direkt nach der Bewerbung an und findet heraus, ob er oder sie zu euch passt. Das könnt ihr aber nur tun, wenn ihr auch verstanden habt, wie euer Arbeitgeber tickt. Hört auf euch hinter dem Wort „Fachkräftemangel“ zu verstecken. Was bringt es euch, einen oder mehrere Active Sourcer einzustellen, wenn der Prozess wie oben beschrieben verläuft? Schlimmer noch: Der Kandidat wird auch noch selbst angesprochen, nur um dann wochenlang auf eine Rückmeldung zu warten. Bitte versteht endlich, dass es nicht um die Masse geht. Selbstverständlich ist Active Sourcing gut, und auch ich wende es an, jedoch mit Hirn und Verstand. Ich schreibe jeden persönlich an und nicht mit einem Fließtext, den ich reinkopiere. Ich begleite von Minute eins den Kandidaten und schaue, dass der Prozess so schlank und schnell wie möglich verläuft. Ständiges Feedback an den Kandidaten ist für mich selbstverständlich. Das sind alles Th

emen, die viel Zeit benötigen und genau da liegt das Problem der Unternehmen. Nehmt euch die Zeit für den Kandidaten, das hat er oder sie verdient!

Abseits des IT-Sektors sieht es bei den Auszubildenden im Handwerk ähnlich aus. Die Unternehmen klagen: Wir finden keine Azubis. Auch hier stellen sich bei mir die Nackenhaare auf, wenn ich sehe, welche Kriterien die Ausbildungsstätten anlegen: Gute Noten in Deutsch und Religion sind Voraussetzung. Liebe Ausbildungsstätten, habt ihr euch mal mit dem Schulsystem auseinandergesetzt? Wisst ihr, was und vor allem wie der Schulstoff heutzutage vermittelt wird? Es ist traurig, dass jungen Menschen mit durchschnittlichen Noten kein Vertrauen geschenkt wird. Im meinem unmittelbaren Freundeskreis helfe ich dem Sohn einer guten Freundin, einen Ausbildungsplatz zu finden. Fehlanzeige, er bekommt von allen Betrieben eine Absage. Er hat einen Hauptschulabschluss mit der Note 2,6 gemacht. Mag sein, dass das nicht der beste Schulabschluss ist, aber er möchte so gerne als Autolackierer seine Ausbildung beginnen. Keine Chance. Er ist ja „nur“ Hauptschüler. Aber klar: Man findet keine Azubis, wir haben ein mächtiges Problem mit den Nachwuchskräften. Darüber kann ich nur noch müde lächeln.

„Elif, magst du dir diesen Kandidaten bitte anschauen, ich weiß nicht, ob der ausreichend Deutsch spricht“, bat mich eine Kollegin vor einigen Jahren. Ich öffnete die Bewerbung und stellte fest, dass der Kandidat einen ausländischen Namen hat, jedoch in Deutschland geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. „Warum soll der denn nicht ausreichend Deutsch sprechen?“, frage ich meine Kollegin. „Naja, er hat ja so einen ausländischen Namen“, antwortete sie ganz selbstverständlich. In diesem Moment ist mir klar geworden: Ich habe auch einen ausländischen Namen und werde vermutlich von vielen mit „nicht ausreichenden Kenntnissen in der deutschen Sprache“ gleichgesetzt. Auch hier meine provokante Frage: Sind Fachkräfte nur diejenigen mit einem deutschen Namen? Und wenn dieser Kandidat wirklich nicht das beste Deutsch spricht, jedoch vom Typ her zum Unternehmen passt und die fachlichen Inhalte abdeckt, warum kann man ihm keine Chance geben und einen Deutschkurs spendieren?

So lange das System nicht geändert wird und die Unternehmen nicht anfangen umzudenken, wird es immer einen „Fachkräftemangel“ geben. Es ist ja auch viel einfacher, sich hinter so einem mächtigen Wort zu verstecken, als zuzugeben, dass im Unternehmen etwas schief läuft. So lange in der Personalabteilung Menschen ohne eigene Meinung eingestellt werden und ggf. genau auf diese genannten Punkte nicht hinweisen, wird vermutlich auch kein Umdenken stattfinden. Meine Bitte nur: Wacht endlich auf, es liegt an euch, nicht an den Kandidaten!